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Amir und der Geschmack von Heimat | Interview mit Séverine Vidal

Liebe Séverine, wir freuen uns sehr, dass du dir die Zeit nimmst, uns ein paar Fragen zu deinem neuen Buch zu beantworten. Wir freuen uns sehr, dass diese herzliche Geschichte und ihre wunderschönen Bilder, gezeichnet von Adrián Huelva, nun den Weg nach Deutschland gefunden haben. Wie ist dieses Projekt entstanden, und wie hat sich eure Zusammenarbeit gestaltet?

 

Ich gebe häufig Schreibworkshops für Asylbewerber*innen. Es macht mir großen Spaß, Menschen beim Schreiben zu fördern, sie zu ermutigen, über sich selbst zu sprechen und ihnen so zu helfen, sich von manchem zu befreien. Durch die Erfahrungen und Begegnungen mit diesen Menschen wurde ich dazu inspiriert, Amir und der Geschmack von Heimat zu schreiben. Amir basiertm nicht auf einer realen Person, die mir begegnet ist. Ich habe aber Jugendliche kennengelernt, die ihm ähnlich waren, die mich bewegt haben und deren Lebensweg ich erzählen wollte. Nachdem ich einen ersten Entwurf der Geschichte fertig hatte, habe ich ihn Adrián geschickt. Zu diesem Zeitpunkt kannten wir uns noch gar nicht und hatten uns bis dahin noch nie gesehen. Er hat das Aussehen der Figuren entworfen, mir seine Recherchen geschickt, und danach haben wir gemeinsam darüber gesprochen. Er versteht meine Absichten sehr gut, er versteht meine Figuren. Wir sind nicht im selben Alter, wir kommen nicht aus demselben Land – und doch verstehen wir uns!

 

Wie hast du die Geschichte entwickelt? Gab es einen bestimmten Auslöser, der

dich dazu bewegt hat, Amirs Geschichte zu erzählen? Und gibt es eine Botschaft in der Geschichte, die dir ganz besonders am Herzen liegt?

 

Ich hatte den Wunsch, eine Figur zu erschaffen und zum Leben zu erwecken, die ein Leben in ihrem Heimatland geführt hat, ein Leben, das sie zurücklassen musste. Eine Figur, die ihren Beruf, ihre Familie, alles hinter sich lässt und quasi bei null anfangen muss. Dabei wollte ich keinesfalls die Geschichte einer großherzigen französischen Familie erzählen, die einen „armen Flüchtling“ rettet und damit allein sich selbst in den Mittelpunkt stellt. Ich wollte mehr Nuancen in der Geschichte! Also habe ich mir vorgestellt, dass auch Amir sie in gewisser Weise rettet. Er bringt Menschlichkeit, Wärme, seine Kochkünste und seine Talente mit. Er verändert damit etwas. Die Reaktionen der Familienmitglieder fallen dabei ganz unterschiedlich aus, je nach Alter, Vorurteilen und persönlichen Werten. Ich wollte, dass die Leser*innen von Amir berührt werden, ihm folgen, seine Geschichte erleben und vielleicht sogar selbst etwas ins Nachdenken kommen. Das weltweite Erstarken der extremen Rechten macht mir große Angst. Das spiegelt sich auch in meinen Texten wider.

 

In dem Buch finden wir auch einige Rezepte aus der syrischen Küche. Wie kam es zu der Idee, Rezepte in das Buch aufzunehmen? Ninon Arnould wird am Anfang des Buches als Unterstützerin erwähnt. Wie kann man sich eure Zusammenarbeit vorstellen?

 

Die syrische Küche hat mir schon immer sehr gut gefallen – ein Teil meiner Ex-Familie stammt von dort. In meinen Workshops nutze ich das Thema Essen häufig, um Erinnerungen wachzurufen. Es kommt sogar vor, dass wir nach dem Schreiben gemeinsam kochen oder eine Mahlzeit teilen. Meine Tochter Ninon arbeitet in der Gastronomie und ist eine hervorragende Köchin. Ich habe sie gebeten, passende Rezepte auszuwählen und auszuprobieren. Danach haben wir die Gerichte gemeinsam gekocht und gegessen.

 

Einige Seiten im Comic sind der Arbeit des Magma Performing Theatre sowie Nadège Prugnard und Julie Romeuf beim Festival Fest’arts 2019 in Libourne gewidmet. Magst du uns mehr darüber erzählen?

 

Es handelt sich um ein Straßentheaterfestival in der Nähe meines Wohnortes in der Gironde, nicht weit von Saint-Émilion. In diesem Jahr fand an den Quais, also am Ufer der Dordogne, eine unglaubliche Ausstellung statt, die gemeinsam mit Asylbewerber*innen realisiert wurde. Hunderte von Schuhpaaren lagen auf dem Boden verteilt, jedes mit einer Botschaft eines Flüchtlings versehen. Die Botschaften, die ich für den Comic ausgewählt habe, waren diejenigen, bei denen ich vor Rüh- rung kaum noch atmen konnte. Ich wollte diese

Arbeit unbedingt würdigen.

 

Du durftest Schreibworkshops des Netzwerks Canopé begleiten und hast am Ende des Comics Zitaten junger Geflüchteter aus diesen Workshops Raum gegeben. Möchtest du uns von deinen Erfahrungen aus dieser Zeit berichten?

 

Diese Workshops mit Canopé fanden im Rahmen eines von der AFD (Agence Française du Développement) organisierten Wettbewerbs mit dem Titel Réinventer le monde („Die Welt neu erfinden“) statt. Gemeinsam mit jungen Geflüchteten haben wir Texte für Podcasts verfasst. Auch wenn sie in diesem Jahr nicht gewonnen haben, habe ich den Teilnehmenden versprochen, ihre Aussagen auf die eine oder andere Weise weiterleben zu lassen. Dieses Buch ist ihnen gewidmet – es ist meine Art, mein Versprechen einzulösen.

 

Vielen Dank, dass du unsere Fragen beantwortet hast! Zum Abschluss noch eine letzte Frage: Ist bereits ein neues Projekt in Planung, und falls ja, kannst du uns schon etwas darüber verraten?

 

Ich habe tatsächlich viele Projekte in der Pipeline! Dazu gehören Biografien über die Schriftstellerin

Colette, die Kriegsreporterin Martha Gellhorn sowie die Philosophin, Dichterin und Psychoanalytikerin Lou Andreas-Salomé. Außerdem arbeite ich an der Adaption eines erfolgreichen französischen Comics für Jugendliche. Und ich schreibe an einem Roman über Richard und mildred Loving – und noch einiges mehr!

 

Vielen Dank für die Wertschätzung von Amir und der Geschmack von Heimat. Ich freue mich sehr, dass das Buch nun auch in Deutschland erscheint.

  

Danke dir für dieses Gespräch.

 

Amir und der Geschmack von Heimat ist hier erhältlich!