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Aale und Gespenster | Interview mit Marius Schmidt

Lieber Marius, Aale und Gespenster ist dein erster großer Auftritt auf der deutschsprachigen Comicbühne. Magst du uns, bevor wir ins Buch eintauchen, ein bisschen über dich und deine Beziehung zum Medium Comic erzählen? Wie bist du auf den Comic gekommen und was hat dich zu dieser Erzählform hingezogen? 

 

Im Kunststudium, das eher auf Fotografie und Film ausgelegt war, habe ich gelernt, wie Geschichten aus Dokumenten und Dingen des Alltags entstehen können, in Anlehnung z.B. an Dokumentarfilme. So habe ich eine Weile sehr frei – aber auch sehr abstrakt – mit Fotos und Objekten gearbeitet, bis mir die dramaturgischen Möglichkeiten zu eingeschränkt waren und ich konkreter erzählen wollte. Dann bin ich Schritt für Schritt in den Comic rüber gewandert. Zuerst kamen dabei eher experimentelle Bildbände heraus, mittlerweile fühle ich mich sehr in der Mitte des Mediums angekommen. Meine ersten künstlerischen Schritte habe ich mit 16 Jahren beim Zeichnen von Comics gemacht, insofern schließt sich da ein Kreis für mich.

 

Aale und Gespenster erzählt von einer zwischenmenschlichen Tragödie vor dem Hintergrund eines großen, kollektiven Traumas, des Untergangs der Cap Arcona in der Lübecker Bucht in den letzten Kriegstagen. Wie bist du auf diese Geschichte gestoßen und warum wolltest du dieses historische Ereignis thematisieren?

 

Das Thema lag vor der Haustür meiner Großmütter. Beide wohnten an der Lübecker Bucht. Die Ereignisse der Cap Arcona sind hin und wieder in kurzen Sätzen oder Anmerkungen von Verwandten aufgetaucht, ohne dass ich als Kind genau verstanden hätte, was da eigentlich passiert ist. Als ich mich vor ein paar Jahren oberflächlich mit dem Thema beschäftigt habe, war ich irritiert, wie wenig Material es zu den Ereignissen gibt. Da habe ich angefangen, weiter zu graben und mich auch mit der Zeit unmittelbar nach Kriegsende beschäftigt. Nach und nach habe ich dann immer mehr Details und Zusammenhänge freigelegt, bis klar war, dass ich darüber eine Geschichte schreiben möchte.

 

Die Lübecker Bucht ist ein wirklich faszinierendes, unwahrscheinliches Setting: ein Sommerbadeort, der zum Zentrum einer immensen Tragödie wird und nicht vergessen/verdrängen kann, weil das Schiffswrack der Cap Arcona wie ein Mahnmal in der Bucht aus dem Wasser ragt. Was hat dich an diesem Ort besonders interessiert und wie hast du versucht, diese Themen in deinem Buch einzufangen?

 

Das Wrack der Cap Arcona war für mich ein Schlüsselbild in der ganz frühen Phase der Stoffentwicklung: Wie ein Grabstein, der mitten in die Sommerferien fremder Menschen gepflanzt ist. Urlaub auf dem Friedhof, statt tanzen auf Gräbern. Der Gegensatz dieser zwei Realitäten ist beeindruckend: Auf der einen Seite sind die Badeorte dort seit über hundert Jahren etablierte Touristenmagneten, denen auch der Krieg nicht viel anhaben konnte. Orte, die mit Entspannung und Spaß verbunden werden, während unter dem Sand diese grauenhaften Ereignisse verborgen liegen. 1950 wurde das Schiff demontiert. Damit war das Thema aus der öffentlichen Wahrnehmung verschwunden. Diese Überlagerung habe ich im Buch durch die Verschränkung zweier Zeitebenen versucht darzustellen: Direkt nach dem Krieg ist das Schiff und auch die alltägliche Not sehr präsent und stehen miteinander in Verbindung. In den achtziger Jahren ist die Geschichte dann unter dem allgemeinen Urlaubsfeeling verschüttet und spielt eher als Schauermärchen eine Rolle. Dieser Kontrast ist das Ergebnis von Verdrängung, die aber langfristig keine Lösung bietet. Früher oder später kommen solche Themen wieder hoch, z.B. wenn die Nachfahren Fragen stellen oder eine Leiche gefunden wird, wie im Buch. Dann geht die Suche nach Antworten wieder von vorne los.

 

Ein zentrales Thema für Nachkriegsliteratur ist der Umgang mit dem Thema „Schuld“, das du durch deine Protagonist*innen, ihre Familien und Lebensgeschichten gleich auf mehreren Ebenen diskutierst. Könntest du mal auf diesen Aspekt deiner Erzählung eingehen? Welche Rollen hast du Casimir, Marianne und Rimsky in deiner Geschichte zugeschrieben?

 

Die Frage der Schuld nach dem Krieg ist sehr komplex in dieser Region, deren Bewohner sich keineswegs als befreit empfunden haben. Man hat sich häufig eher als Opfer der neuen Umstände verstanden und zu Unrecht belastet mit der Versorgung der zahlreichen Ost-Flüchtlinge, die sich ihrerseits als Opfer von Vertreibung sahen. Trotz aller Unterschiede zwischen Einheimischen und Flüchtlingen grenzten sie sich doch klar ab von den Häftlingen der Cap Arcona, die eine ganz andere Opfergeschichte hatten: Sie waren zum überwiegenden Teil internationale politische Gefangene der Nazis, Widerstandskämpfer aus zahlreichen europäischen Ländern, die erst wenige Tage zuvor hierher verlegt worden waren. Und es waren britische Bomber, die das Schiff versenkten. Da war es scheinbar leichter, sich gemeinsam darauf zu einigen, dass man damit nichts zu tun habe und entsprechend auch keinerlei Verantwortung für eine Erinnerungskultur sah. Ich habe mich bemüht, Figuren zu entwerfen, die die ganze Bandbreite der Widersprüche damaliger Biografien zusammenführen: Vertriebene, ehemalige Häftlinge, desertierte Soldaten, einheimische Täter und Menschen, die knapp dem Tod entkommen sind. Viele trugen Erlebnisse mit sich herum, die sie belasteten, auch außerhalb klassischer Nazi-Karrieren. In den ersten Jahren nach dem Krieg konnten z.B. viele lebensnotwendige Dinge nur auf illegale Weise beschafft werden. Da wurden häufig Grenzen überschritten, die man in normalen Zeiten gewahrt hätte. Auch die beiden Freunde Casimir und Rimsky haben Aspekte, die sie nicht in die Öffentlichkeit tragen, die sich nur in Träumen offenbaren oder durch verräterische Dokumente. Der eine ist desertiert und über die zugefrorene Ostsee nach Westen geflohen. Der andere verheimlicht seine SS-Mitgliedschaft, erschwindelt sich einen Opferstatus und versucht so ein neues Leben zu beginnen. Die Dritte im Bunde, Anna, trägt ihre Schattenseiten offen vor sich her. Als Tochter eines NS-Haushalts ist sie ihrer Zeit entfallen. Ihre Prägung erweist sich auf einmal als unerwünscht, ihre Werte als nicht mehr gültig. Die drei sind wie Fische auf dem Trockenen, stabilisieren sich aber irgendwie auch gegenseitig, bis am Ende doch alles kollabiert. Marianne hingegen ist vierzig Jahre später Teil einer nachfolgenden Generation, die diese Schattenseiten zwar zu spüren bekommt, sie aber nicht einordnen kann. Sie reist an die Ostsee, um mehr über die Kindheit ihrer Mutter Anna zu erfahren und trifft vor Ort auf Schweigen.

 

Wie wird in der Region Lübeck heute mit der Tragödie um die Cap Arcona umgegangen? Gibt es eine Gedenkkultur und wie gestaltet sie sich?

 

Die Gedenkkultur hat sich sehr gut entwickelt. Es gibt mittlerweile viele Engagierte, die das Thema unterstützen und lebendig halten, z.B. auch über die Arbeit mit Kindern und Jugendlichen. Es ist ein Dokumentationszentrum geplant, um Forschung zu bündeln. Das war früher scheinbar anders. Es ist einigen Einzelkämpfer*innen zu verdanken, dass viele Daten von damaligen Zeitzeug*innen gesammelt werden konnten und auch andere Unterlagen überlebt haben. Soweit ich es verstanden habe, bestand über fünfzig Jahre lang nur wenig Interesse daran, dieses Thema politisch ins Rampenlicht zu stellen.

 

Aale und Gespenster wird auf zwei Zeitebenen erzählt, eine Art Rahmenhandlung in den späten 1980ern „unterbricht“ immer wieder die historische Erzählung und verleiht deinem Buch fast einen „whodunnit“/Krimi-Charakter. Warum hast du dich für diesen zweiten Erzählstrang entschieden?

 

Es gibt mehrere Gründe für diese zweite Zeitebene. Zum einen der erwähnte Kontrast des Ortes 1947 und 1987. Zum anderen wollte ich die transgenerationalen Hemmnisse mit erzählen, die es folgenden Generationen schwer machen, sich mit einem solchen Thema auseinanderzusetzen. Persönliche Gründe wie Ohnmacht, Scham oder auch schlicht Ignoranz verhindern, dass Informationen und Gefühle weitervermittelt werden. Die Nachgeborenen spüren dann, dass irgendwas mit den Eltern nicht stimmt, finden aber nicht raus, was es ist.

 

Dann steht noch der Tod Rimskys als individuelles Schicksal im krassen Missverhältnis zu den unzähligen weiteren Toten im Schiff, von denen sich eine Linie weiter zur unfassbaren Menge anderer Kriegsopfer ziehen lässt. Diese unterschiedlichen Maßstäbe werden erst deutlich, wenn beide Geschichten Zeit hatten, sich zu entfalten und dann von der Institution, die sie verknüpfen könnte, ignoriert werden: Der Tote bekommt von der Polizei nicht die Mordermittlung, die ihm eigentlich zustehen würde. Der Fall wird in eine Tüte gepackt und dem Gedenkverein übergeben.

 

 

Du benutzt für Aale eine sehr freie Seitenkomposition ohne die klassischen Comicpanel. Kannst du uns ein wenig über deinen zeichnerischen Ansatz verraten?

 

 

Vielleicht ist das ein Überbleibsel aus meinem Kunststudium. Da lernt man, Dinge immer neu und anders auszuprobieren. Ich bemühe mich, einen möglichst glatten Lesefluss zu erzeugen. Dabei stören mich persönlich die ganzen Linien von Kästchen. Schnelle Dialoge sollten etwa auch bildlich ineinanderfließen, andere Szenen profitieren von viel weißer Fläche, können dann atmen. Die offene Gestaltung kommt auch den Aquarellfarben entgegen, die frei übers Blatt laufen können. Die Blickachsen sind allerdings sehr klassisch gestaltet, wie beim Panelcomic: Totale, Schuss, Gegenschuss – nur eben ohne Rahmen. 

 

Arbeitest du analog? Könntest du ein wenig über deinen Arbeits- und Zeichenstil erzählen?

 

Ich mache das Seitenlayout zuerst analog und dann die Vorzeichnungen am iPad, hauptsächlich weil sich dort alles so gut überarbeiten lässt. Vieles ändert sich im Zeichenprozess und meist schiebe ich einzelne Elemente millimeterweise übers Blatt, bis sie passen. Da bin ich einfach zu faul, um jedes Mal die Seite neu zu zeichnen. Die Farbflächen sind dann analog, die mache ich am Lichttisch, ganz ohne Linien. Die kommen

dann wieder im iPad hinzu, in Form der finalen Outlines. Auch, weil man da z.B. an Gesichtsausdrücken noch bis zur letzten Minute Nuancen ändern kann. Als Comiczeichner ist man allein mit der Arbeit einer ganzen Gruppe Schauspieler konfrontiert, da bin ich froh, wenn ich ein bisschen rumprobieren und ausbessern kann, ohne dass ich mich jedes Mal fragen muss, ob ich mir zeitlich leisten kann, in letzter Konsequenz alles nochmal neu zu machen.

 

In wenigen Wochen ist der 80. Jahrestag des Untergangs der Arcona und auch der 80. Jahrestag des Endes des Zweiten Weltkriegs. Wie nimmst du das Gedenken und die Debatten über den Krieg und seine Folgen wahr? Gibt es Themen, die dMn in den Erinnerungsdebatten zu kurz kommen?

 

Die große Verlorenheit, die nach dem Krieg vielerorts geherrscht hat, die innere Leere, die fehlt mir manchmal im Umgang mit dem Thema. Da kommt dann sehr schnell der Wiederaufbau und das Wirtschaftswunder. Die deutsche Erinnerungskultur ist ein sehr spannendes Thema, gerade weil sie international immer wieder so herausgehoben wird. Aber sie unterliegt im Kampf gegen das Vergessen paradoxerweise auch der Notwendigkeit sich immer wieder anzupassen und zu verändern. Die Versuche z.B. Rechtsradikaler, daran herumzuschleifen oder sie komplett zu verdrehen, sollte uns als ein umgedrehter Wegweiser dienen. Ich glaube eine lebendige Erinnerungskultur können wir erhalten, wenn sie sich Neuem öffnet, dabei fähig bleibt zu integrieren und das Universelle anerkennt, das in individuellem Leid und kollektiver Trauer liegt.

 

Vielen Dank für dieses Gespräch.

 

Aale und Gespenster ist hier erhältlich!