Die ukrainische Journalistin und Autorin Mariam Naiem im Interview
Liebe Mariam, vielen Dank, dass du dir die Zeit genommen hast, unsere Fragen zu beantworten. EINE KURZE GESCHICHTE EINES LANGEN KRIEGES ist eine Zusammenarbeit mit den Illustrator*innen Yulia Vus und Ivan Kypibida. Kannst du uns etwas über die Entstehung dieses Projekts und den kreativen Prozess dahinter erzählen?
Das Projekt begann mit einem Vorschlag des Vydavnytstvo Verlags. Ich war sofort davon begeistert, weil ich frustriert war, dass Geschichten über Ukrainer*innen meist von Nicht-Ukrainer*innen erzählt wurden. Als wir mit der Zusammenarbeit begannen, gab es bereits ein Werk über den Krieg gegen die Ukraine, das jedoch nicht von ukrainischen Autor*innen verfasst worden war. Es gab zwar vor, objektiv zu sein, aber echte Objektivität gibt es nicht. Unsere Idee war es, unsere Stimme zurückzugewinnen und die ukrainische Geschichte in einem visuellen Format zu erzählen, und zwar von Ukrainer*innen selbst. Ich sah dies auch als Teil eines Dekolonialisierungsdiskurses, was ein weiterer Grund war, warum ich zugestimmt habe.
EINE KURZE GESCHICHTE EINES LANGEN KRIEGES ist die erste ukrainische Graphic Novel, die auf dem deutschen Markt erscheint. Kannst du uns etwas über die Comic-Community in der Ukraine und Ihre Comic-Tradition erzählen? Wie wichtig ist das Medium Comic als Erzählform – und wie spiegelt deine Arbeit diese künstlerische Tradition wider?
Für mich war das Medium Comic wichtig, weil es ein visuelles Format ist, das ein internationales Publikum effektiv erreichen kann. Wir wollten den Ukrainer*innen ihre Stimme zurückgeben und unsere Geschichte in einem Format erzählen, das zugänglich und ansprechend ist. Die visuelle Natur von Comics ermöglicht es uns, komplexe historische Erzählungen auf eine Weise zu vermitteln, die Sprachbarrieren überwindet. Dies war entscheidend, da wir sowohl auf Ukrainisch als auch auf Englisch [und jetzt auch auf Deutsch] veröffentlichen. Und wir freuen uns, sagen zu können, dass die ukrainische Comic-Tradition wächst, auch mit Hilfe des Verlags Vydavnytstvo. :)
Du arbeitest als Journalistin und berichtest aus postkolonialer Perspektive über den Krieg Russlands gegen die Ukraine. Wie beurteilst du die Berichterstattung der internationalen Medien über den Krieg? Welche Perspektiven und Stimmen fehlen? Und wie könnte dieses Comic-Projekt dazu beitragen, Einblicke in die ukrainische Sichtweise zu vermitteln?
Das Hauptproblem ist, wie ich bereits erwähnt habe, dass Geschichten über Ukrainer*innen zu oft von Nicht-Ukrainer*innen erzählt werden. Das ist ein grundlegendes Problem, weil es keine wirklich objektive Außenperspektive gibt – jeder hat seine eigene Sichtweise. Was fehlt, sind die authentischen ukrainischen Stimmen, unser Verständnis unserer eigenen Geschichte und unseres Kampfes. Dieses Comic-Projekt befasst sich direkt mit dieser Lücke. Es geht darum, unsere Erzählung zurückzugewinnen und sie aus unserer Perspektive zu präsentieren. Durch diese Arbeit können wir die Kontinuität der russischen Aggression gegen uns im Laufe der Geschichte aufzeigen und erklären, warum Sprache für uns so wichtig ist, warum das Wort „Völkermord” so viel Gewicht hat, warum es wichtig ist, eine eigene Kirche zu haben – all dies hängt damit zusammen, wie Russland das Wort „Rus” und unsere Geschichte vereinnahmt hat. Wir können erklären, warum Demokratie für uns so entscheidend ist, indem wir auf die Orangene Revolution und die Revolution der Würde verweisen, ohne die man den aktuellen Krieg nicht verstehen kann.
Die Erzählstruktur wechselt zwischen Gegenwart und Vergangenheit und schafft einen größeren historischen Kontext für die aktuelle russische Invasion. Kannst du uns etwas über deine Recherchen und die Quellen erzählen, mit denen du arbeitest? Was war dein Schwerpunkt?
Von Anfang an musste ich akzeptieren, dass ich Kompromisse eingehen würde – einige Dinge konnten leider nicht berücksichtigt werden. Ich habe Ereignisse ausgewählt, die meiner Meinung nach bestimmte Aspekte vereinfachen und erklären konnten: warum Sprache für uns so wichtig ist, die Kontinuität des Begriffs „Völkermord”, warum es entscheidend ist, eine eigene Kirche zu haben, warum Demokratie so wichtig ist. Meine Recherchen basierten auf drei ukrainischen Historikern: Orest Subtelny, Yaroslav Hrytsak und Serhii Plokhy. Das war meine Logik, und ich hoffe, dass die Leser*innen das Gefühl haben, dass es nicht genug ist, und sich weiter informieren werden. EINE KURZE GESCHICHTE EINES LANGEN KRIEGES kann nicht als historische Quelle bezeichnet werden – dafür haben andere bereits ausgezeichnete Bücher geschrieben. Unser Comic soll die wichtigsten Ereignisse unserer gemeinsamen Geschichte mit Russland zeigen, die die Kontinuität der russischen Aggression uns gegenüber verdeutlichen.
Die Illustrationen sind fast ausschließlich in Schwarz-Weiß gehalten, nur die Farbe Orange sticht hervor – vermutlich ein bewusster Verweis auf die Orangene Revolution. Kannst du uns mehr über deinen künstleri
schen Prozess und die Entscheidung für diesen reduzierten Stil erzählen? Wie viel Einfluss hattest du auf den kreativen Prozess von Yulia Vus und Ivan Kypibida?
Ich sagte sofort, dass ich mir den Comic in Schwarzweiß oder mit maximal zwei Farben vorstellte. Es stellte sich heraus, dass die Illustrator*innen genauso dachten. Während der Diskussion mit dem Verlag Vydavnytstvo kamen wir zu dem Schluss, dass es besser wäre, nur eine weitere Farbe zu verwenden. Orange kann verschiedene Bedeutungen haben – vom Symbol der Orangenen Revolution bis hin zu einer intensiven Leucht- und Aussagekraft. Ich denke, dass Orange den Illustrator*innen vielleicht die Möglichkeit gab, mit Ideen zu spielen, aber das solltet ihr besser sie selbst fragen. :) Das wichtigste Kapital in der Zusammenarbeit ist Vertrauen. Also habe ich Yulia und Ivan meine Ideen mitgeteilt, aber immer gesagt, dass sie frei sind, das zu tun, was sie für das Beste halten. Beim Schreiben des Manuskripts habe ich sofort beschrieben, wie die Illustration aussehen könnte, und Yulia und Ivan haben ihre Vision vorgeschlagen. Es gab bestimmte Bilder, die ich genau so behalten wollte, wie ich sie mir vorgestellt hatte, und so haben wir es auch gemacht. Nur etwa dreimal hat mir etwas, was die Illustrator*innen vorgeschlagen haben, nicht gefallen, aber das waren nur kleine Details.
Das Buch schafft eine Bühne für persönliche Geschichten. Kannst du uns mehr über die Umstände erzählen, unter denen die Interviews geführt wurden, wie du deine Interviewpartner*innen ausgewählt hast und was dir bei der Auswahl wichtig war?
Ich kenne jede dieser Personen persönlich, und alle inspirieren mich zutiefst. Ich stelle mir vor, dass sie alle ein völlig anderes Leben hätten, wenn es Russland nicht gäbe.
Dora Khomiak ist die Geschäftsführerin von Razom for Ukraine, eine Organisation mit Sitz in den USA, die sich für den Aufbau einer sicheren und demokratischen Ukraine einsetzt. Ich habe sie auf einer Konferenz in Harvard kennengelernt. Ich war schon immer beeindruckt davon, wie diese Organisation die Ukraine unterstützt und wie engagiert sie sich für unseren Kampf einsetzt. Für mich symbolisiert Dora den ukrainischen Widerstand im Ausland, den wir so dringend brauchen, und meine Dankbarkeit dafür.
Olya ist derzeit Freiwillige, aber für mich ist sie in erster Linie eine Philosophielehrerin, die fast ihre gesamte Zeit der Unterstützung des Militärs widmet. Für mich steht sie stellvertretend für die ukrainischen Intellektuellen, die ihre Stifte niederlegen mussten und nun darüber nachdenken, wie sie zur Verteidigung ihres Landes beitragen können.
Pavlo ist ein sehr enger Freund von mir, der sich seit Jahrzehnten für die Nachbarschaftshilfe in Kiew und den Aufbau einer Gemeinschaft engagiert und sich entschlossen hat, für die Verteidigung des Landes zu mobilisieren. Für mich ist dies ein Beispiel dafür, wie der Krieg von uns maximale Einheit und Selbstaufopferung verlangt.
Mykyta ist ein unglaublich talentierter Fotograf und Militärsanitäter, der viele Leben gerettet hat. Er ist ein kreativer Mensch, der nun das Leben anderer Menschen in seinen Händen hält. Für mich repräsentiert dies, was ukrainische Kunst derzeit ausmacht – Künstler*innen müssen ihre Kunst beiseite legen und Verbandzeug in die Hand nehmen.
Jeder dieser Menschen repräsentiert einen anderen Aspekt des ukrainischen Widerstands und der ukrainischen Resilienz, und ihre Geschichten mussten erzählt werden.
An einer Stelle im Comic wird die Protagonistin gefragt, was Menschen im Ausland über den Krieg wissen sollten. Ihre Antwort: „Dass dies kein Ein-Mann-Krieg ist” und dass dies nicht „die erste ukrainische Generation [ist], die an Ungerechtigkeit stirbt”. Was möchtest du den Leser*innen noch mitteilen?
Das Schreiben dieser Geschichte war emotional sehr schwierig – während des Schreibprozesses habe ich die meiste Zeit geweint. Ich glaube, für die Illustrator*innen war es noch schwieriger, die Gesichter russischer Propagandist*innen und ähnlicher Personen zeichnen zu müssen. :) Als ich an dem Comic arbeitete, dachte ich in erster Linie an Menschen aus dem Ausland – ich musste erklären, wer die „Sechziger“ waren, was der „Holodomor“ war und so weiter. Für Ukrainer*innen wird EINE KURZE GESCHICHTE EINES LANGEN KRIEGES eher ein Kunstbuch sein, ein Artefakt, das man als Andenken kauft, weil uns die Hauptbotschaft bereits sehr klar ist. Aber ich glaube, dass die Zeit vergehen wird, dass alles vergessen werden wird, auch wenn die Geschichte gerade geschrieben wird. In 20 Jahren wird dieses Buch einen anderen Eindruck hinterlassen. Es ist eine Aufzeichnung unseres Kampfes, unseres fortwährenden Kampfes für Freiheit und eine Dokumentation der anhaltenden russischen Aggression. Ich möchte, dass die Leser*innen verstehen, dass das, was jetzt geschieht, kein Einzelfall ist – es ist Teil eines langen historischen Musters. Und vor allem sind es ukrainische Stimmen, die eine ukrainische Geschichte erzählen.
Lilia Omelianenko, Mitbegründerin des ukrainischen Verlags Vydavnytstvo, über die Graphic Novel:
EINE KURZE GESCHICHTE EINES LANGEN KRIEGES, 2025 in der Ukraine veröffentlicht, ist bereits die erfolgreichste Graphic Novel in der Geschichte der Ukraine, mit der höchsten Anzahl an Übersetzungen und Auflagen. Die Idee und Produktion des Buches wurden von den Mitbegründer*innen des Verlags (Eliash Strongowski und Lilia Omelianenko) realisiert. Die Idee entstand, als westliche Künstler*innen infolge der vollständigen Invasion Russlands in der Ukraine begannen, über die Voraussetzungen und Gründe für Russlands Vorgehen zu schreiben und zu berichten. Dabei ignorierten sie die ukrainische Perspektive auf das Thema und schlossen damit die Ukrainer*innen als betroffene Partei vom Verständnis und der Vermittlung aktueller und historischer Narrative aus. Da die Ukraine zu diesem Zeitpunkt versuchte, einen Völkermordkrieg zu überleben, wurde ihre Stimme von Menschen übernommen, die keine direkten Zeug*innen oder Teilnehmende der Ereignisse waren.Daher wurde die Idee äußerst relevant, die Geschichte über all die Vorbedingungen für Russlands Versuche, die Ukraine als souveränes Land und die Ukrainer*innen als ethnische Gruppe auszulöschen, in grafischer Form im Namen der Ukrainer*innen selbst zu erzählen. Da der Verlag bereits mehrere ukrainische Graphic Novels (über Feminismus, Literatur, Borschtsch) herausgebracht hatte, konnten wir im Sommer 2023 mit der Arbeit an dem Projekt beginnen und die für diesen Zweck am besten geeignete Autorin und am besten geeigneten Künstler*innen hinzuziehen.
Die Illustrator*innen Yulia Vus und Ivan Kypibida im Interview
Erzählt uns ein wenig über euch und eure kulturelle Prägung. Wann habt ihr Comics für euch entdeckt und welche Rolle spielte dieses Medium für euch während eurer Kindheit? Was hat euch als Kreative an den narrativen Möglichkeiten des Comics fasziniert?
IVAN: Vielen Dank! Ich freue mich sehr, dass unser Comic bei euch erschienen ist. Gerne beantworte ich eure Fragen! Ich bin in den 1990er Jahren aufgewachsen, während des Zusammenbruchs der UdSSR – es gab überall Mangel und das Leben war insgesamt ziemlich hart. Meine Familie konnte sich nur das Nötigste leisten, daher hatte ich keinen Zugang zu Comics und es gab auch nicht viele davon. Aber ich hatte einige Zeitschriften mit Karikaturen. Ich liebte es, die Zeichnungen anzustarren und kopierte sie oft. Die meisten dieser Cartoons handelten von Politik, Geschichte oder dem Zweiten Weltkrieg. Ich war fasziniert davon, wie Künstler*innen Gesichter und Objekte übertrieben darstellten, wie Bilder und Text zusammenwirkten – und natürlich von der Satire und dem Humor. Später begann ich, Comics über mich selbst zu zeichnen und mir lustige kleine Szenen auszudenken. Ich ging auf eine normale Schule, hatte aber Schwierigkeiten, mit meinen Klassenkamerad*innen in Kontakt zu kommen – wir hatten einfach nicht die gleichen Interessen. So wurde das Zeichnen, insbesondere das Erstellen von Comics, zu meiner Flucht aus der Realität. Echte Comics entdeckte ich erst viel später, als ich bereits an der Akademie studierte. Damals verliebte ich mich in europäische Comics – Art Spiegelmans „Maus“ hat mich völlig umgehauen. Die Idee, dass man so schwere, ernste Themen im Format eines Comics behandeln kann, erschien mir perfekt – als würde das Medium selbst dazu beitragen, die Wahrheit klarer zu offenbaren. Seitdem entdecke ich immer wieder neue Comics und bin nach wie vor ständig von ihnen begeistert.
YULIA: Mein Name ist Yulia Vus. Ich bin eine 28-jährige Illustratorin und Comiczeichnerin aus der Ukraine. Obwohl niemand in meiner Familie in einem kreativen Beruf tätig war, bin ich mit einer Liebe zur ukrainischen Kultur aufgewachsen – zu Traditionen, Musik und Büchern – und dieser Einfluss ist in meinen Arbeiten zu erkennen. Ich habe erst relativ spät, als Erwachsene, angefangen, Comics zu lesen und zu zeichnen. Ich wurde in den 90er Jahren in einer kleinen Bergbaustadt geboren und kann mich nicht wirklich daran erinnern, als Kind Comics gesehen zu haben. Lange Zeit dachte ich, Comics handelten nur von Superhelden, und das hat mich nie wirklich interessiert. Als ich selbst anfing, Comics zu zeichnen, begann ich mit kurzen Strips – einfachen, lustigen Geschichten, die auf meinen eigenen Lebenserfahrungen basierten. Eine Illustration allein reichte nicht aus, um alles zu erzählen, was ich wollte, aber Comics schienen mir das richtige Format zu sein. Später, als ich mehr über das Medium lernte, erkannte ich, wie wirkungsvoll es tatsächlich ist. Comics können verwendet werden, um über fast alles zu sprechen – vom täglichen Leben bis hin zu großen historischen oder emotionalen Themen. Als 2022 der Krieg in seinem ganzen Ausmaß begann, war das erste, was ich zeichnen konnte, ein kurzer 4-Panel-Comicstrip über die Idee von „Zuhause”. Er war sehr einfach, aber er half mir, Emotionen auszudrücken, die ich nicht in Worte fassen konnte. Comics wurden zu einem Werkzeug, um das Geschehen zu verarbeiten. Seitdem habe ich an vielen Comics gearbeitet – großen und kleinen – aber für mich sind Comics immer noch die emotionalste und ehrlichste Art zu zeichnen. Sehr oft wird es zu einer Art Selbsttherapie.
Könnt ihr uns etwas über die kulturelle Tradition von Comics in der Ukraine erzählen? Welche Rolle haben Comics in den letzten Jahrzehnten in der ukrainischen Popkultur gespielt? Wie groß und international ist die Comicszene?
IVAN: Um ehrlich zu sein, würde ich die ukrainische Comicszene noch nicht als sehr groß bezeichnen. Aber sie wächst definitiv. Was mir besonders gefällt, ist, dass es immer mehr Comics mit einem ausgeprägten ukrainischen Flair gibt – sie haben ihren eigenen Stil, ihre eigenen Geschichten und sogar ihren eigenen lokalen Namen: „Malyopys”. Gerade in den letzten Jahren sind trotz des Krieges viele großartige Alben erschienen – und die Qualität ist wirklich beeindruckend. Ich hoffe sehr, dass sich diese Branche weiterentwickelt und sowohl hier als auch im Ausland mehr Anerkennung findet.
YULIA: Die Comic-Branche in der Ukraine ist relativ jung, hat aber bereits eine eigene Geschichte und einen eigenen Stil, die sich von anderen unterscheiden. Ukrainische Comics haben sogar einen eigenen Namen – „Malyopys“, was wörtlich „gezeichnete Schrift“ bedeutet. Wir beginnen gerade erst, diese Tradition wiederzuentdecken und sie von ihrer kolonialen Vergangenheit zu befreien. Es gibt einen weit verbreiteten Mythos, dass die Geschichte der ukrainischen Comics erst nach der Unabhängigkeit des Landes begann, aber das stimmt nicht. Trotz turbulenter historischer Zeiten, Zensur und vieler anderer Herausforderungen schufen ukrainische Künstler*innen schon lange vor 1991 Comics. Es ist schwer, genau zu sagen, wann dies begann, aber bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts gab es Publikationen, die alle wesentlichen Elemente von Comics enthielten. Leider hat Russland lange Zeit versucht, einen Großteil des kulturellen Erbes, das von Ukrainer*innen in den Jahren geschaffen wurde, in denen die Ukraine noch nicht unabhängig war, für sich zu beanspruchen – und die Geschichte der Comics bildet da keine Ausnahme. Dennoch gelang es ukrainischen Künstler*innen ihre Werke zu schaffen und zu veröffentlichen und sogar im Ausland zu drucken. Nach der Unabhängigkeit begann eine neue Welle der Comickunst. Die Künstler*innen hatten endlich Meinungsfreiheit und konnten zu Themen zeichnen, die zuvor verboten waren. Viele Comics beschäftigten sich mit Geschichte, Folklore und nationaler Identität – sogar Superheldengeschichten mit historischen Bezügen tauchten auf. Die globale Finanzkrise von 2008 bremste die Szene für einige Jahre, aber schon bald darauf tauchten wieder neue Verlage und Künstler*innen auf. Als Russland dann 2014 die Ukraine angriff, tauchte in vielen Werken ein neues Thema auf – der Krieg und alles, was er für das Leben der Menschen mit sich brachte. Leider ist dieses Thema auch heute noch aktuell. Trotz aller Schwierigkeiten wächst und entwickelt sich die ukrainische Comicszene in ihrem eigenen Rhythmus weiter. Und ich hoffe, dass mit der Zeit immer mehr ukrainische Namen in den Bücherregalen auf der ganzen Welt zu finden sein werden.
Welche Auswirkungen hatte die russische Invasion auf die Kunst- und Illustrationsszene in der Ukraine? Welche Rolle spielt die Kunst- und Comicszene dabei, die ukrainischen Anliegen einem internationalen Publikum näherzubringen?
IVAN: Als die groß angelegte Invasion begann, war ich völlig geschockt. Mein Leben stand einfach still – ich hatte keine Ahnung, was ich tun sollte. Am nächsten Tag zeichnete ich eine Illustration über den Krieg, so etwas wie Situationskunst, und ich spürte sofort: Das ist es, was ich jetzt tun muss – der Welt erzählen, was gerade passiert. Viele meiner Künstlerkolleg*innen empfanden genauso. Obwohl wir über verschiedene Orte verstreut waren, begannen alle, ihre eigenen Erfahrungen mit dem Krieg zu teilen. Später begannen viele von uns, an größeren Projekten zu arbeiten, um lauter und gemeinsam über die Ukraine zu sprechen. Ich schätze Ehrlichkeit in der Kunst sehr, daher bin ich fest davon überzeugt, dass es wichtig ist, dass die Ukrainer*innen ihre eigene Geschichte erzählen – und nicht Menschen aus dem Ausland, die für uns sprechen. Und es gibt so viel zu erzählen. Ich finde es toll, dass die Projekte mittlerweile ein breites Spektrum an Themen abdecken – nicht nur Krieg und Geschichte, sondern auch Essen, ukrainisches Kino, Alltag und Kultur im Allgemeinen.
YULIA: Die Invasion veränderte alles. Die meisten von uns sahen sich plötzlich mit Unsicherheit konfrontiert – viele Künstler*innen mussten ihre Heimat verlassen, viele unserer Kolleg*innen tauschten ihre Stifte gegen Waffen ein und gingen an die Front. Jeder versuchte, auf seine Weise nützlich zu sein, auch durch Kunst. Kunst wurde zu einem Mittel, um das Geschehen zu verarbeiten – sowohl durch ernste Themen als auch durch Humor. Künstler*innen begannen, Illustrationen und Comics zu schaffen, die auf den Ereignissen um sie herum und ihren persönlichen Erfahrungen basierten, um die Aufmerksamkeit der Welt auf die Ukraine zu lenken. Viele verkauften ihre Werke, um Geld für die Armee zu sammeln. Das Teilen von Informationen durch Kunst half auch, die Zensur zu umgehen, die zu Beginn der groß angelegten Invasion in den sozialen Medien sehr stark war – fast jeder Beitrag, der Fotos oder Videos von russischen Verbrechen zeigte, wurde als „sensibler Inhalt” gekennzeichnet. Das internationale Publikum reagierte stark, weil es die Geschichten realer Menschen auf der anderen Seite des Bildschirms sah. Diese Zeit wird sicherlich als ein eigenes Kapitel in der Geschichte der ukrainischen Kunst eingehen, da Künstler*innen aller Sparten mit maximaler Kapazität arbeiten, um die Aufmerksamkeit der Welt aufrechtzuerhalten – und das wird immer schwieriger, da der Krieg nun schon seit vier Jahren andauert und Russland nicht aufhören will.
Wie kam es zur Zusammenarbeit mit Mariam Naiem und dem Verlag Vydavnytstvo? Könnt ihr uns etwas über den kreativen Prozess bei der Arbeit an diesem Projekt erzählen? Wie verlief die Zusammenarbeit zwischen euch, Yulia und Ivan? Wie habt ihr gemeinsam die Comicseiten gestaltet?
IVAN: Ich bin Reservist und kann daher nicht oft an Buchfestivals im Ausland teilnehmen. Yulia hingegen schon, und sie kam zurück und erzählte mir von ihren Eindrücken. Ihr fiel auf, dass es immer mehr Bücher über die Ukraine in den Regalen gab – aber viele davon wirkten nicht objektiv, da sie von Menschen geschrieben wurden, deren Meinungen nicht durch persönliche Erfahrungen geprägt waren. Wir hatten auch viele Debatten mit Menschen aus dem Ausland, die auf unsere Beiträge in den sozialen Medien reagierten. Wir verbrachten Stunden damit, Artikel auszugraben, um die russische Propaganda zu entlarven – was anstrengend und frustrierend war, vor allem weil wir uns nicht nur darauf verlassen konnten, zu sagen: „Nun, meine Familie hat unter der UdSSR gelitten“, obwohl das unsere gelebte Wahrheit ist. Vor diesem Projekt hatten Yulia und ich bereits einige Comics gemeinsam gestaltet, und wir wussten, dass wir etwas machen wollten, das erklärt, wer die Ukrainer*innen sind – und warum die russische Aggression kein Einzelfall, sondern ein systemisches Problem ist. Eines Tages rief ich unseren Verleger Eliash an und erzählte ihm von dieser Idee. Er sagte: „Komisch, wir wollten euch gerade ein Angebot machen.“ Kurz darauf erfuhren wir, dass die Autorin Mariam Naiem sein würde – wir waren begeistert, denn wir folgten ihr bereits in den sozialen Medien und bewunderten, wie klar und prägnant sie komplexe historische Themen erklärte. So begann unsere Zusammenarbeit. Wir experimentierten viel mit visuellen Stilen, weil wir etwas völlig anderes schaffen wollten als bisher. Bei früheren Projekten habe ich mich normalerweise um die Skizzen gekümmert und Yulia hat sie fertiggestellt. Aber hier haben wir beschlossen, die Arbeit gleichmäßig aufzuteilen – das Konzept von „Gegenwart“ und „Vergangenheit“ machte dies möglich. Ich habe die Kapitel über die Ereignisse nach dem 24. Februar 2022 gezeichnet und Yulia hat sich um die historischen Teile gekümmert. Aber wir haben alles gemeinsam entwickelt – skizziert, Details diskutiert und die Seiten als Team ständig verfeinert.
YULIA: Wir haben einen beunruhigenden Trend festgestellt: Im Ausland erschienen Comics über die Ukraine, die jedoch nicht von Ukrainer*innen geschaffen worden waren. Als Vydavnytstvo uns anbot, gemeinsam mit Mariam an diesem Projekt zu arbeiten, haben wir sofort zugestimmt. Von Anfang an wussten wir, dass es ein schwieriges Projekt werden würde – und das war es auch. Die Themen waren schwer, wir hatten aufgrund der Angriffe auf die Energieinfrastruktur ständig mit Stromausfällen zu kämpfen und alle waren emotional erschöpft. Fast ein Jahr lang arbeiteten wir in diesem Rhythmus – wir standen in ständigem Kontakt und diskutierten alle paar Seiten Ideen und Fortschritte. Es war ein sehr vertrauensvoller Prozess, Mariam und die Verleger*innen gaben uns völlige kreative Freiheit und vertrauten unserer Vision. Im Laufe der Zeit beschlossen wir, den Comic in zwei verschiedenen visuellen Stilen zu zeichnen: einen für die realen Ereignisse und einen für die historischen Bezüge. So teilten wir die Arbeit zwischen mir und Ivan auf. Wir alle hatten das Gefühl, an etwas sehr Wichtigem zu arbeiten, und gaben alles, was wir hatten.
Was erhofft ihr euch für das Buch in Deutschland und anderen Ländern? Was möchtet ihr den deutschen Leser*innen mit eurem Buch vermitteln?
IVAN: Ich hoffe, dass die Leser*innen in Deutschland – und in anderen Ländern – erfahren, wer die Ukrainer*innen wirklich sind, und unsere Geschichte besser verstehen. Viele Menschen im Ausland denken immer noch, dass Ukrainer*innen und Russ*innen ein Volk sind, aber das stimmt einfach nicht. Die gesamte Geschichte der Ukraine ist ein Kampf um Unabhängigkeit – und dieser Kampf dauert bis heute an. Und natürlich hoffe ich auch, dass die Leser*innen uns durch unsere Kunst kennenlernen.
YULIA: Wir wollten einen Comic über Ukrainer*innen schaffen, der von Ukrainer*innen gemacht wurde. Ein Buch, das uns den Leser*innen näherbringt, ihnen hilft, unsere Realität zu verstehen, und gängige Mythen entlarvt, die von Russland verbreitet werden. Ich hoffe wirklich, dass die Menschen verstehen, dass die russische Aggression gegen uns nicht 2022 und auch nicht 2014 begonnen hat – sondern sehr viel früher. Als Künstler*innen haben wir viel Wert auf Details gelegt. Die Innenhöfe, Gebäude und Landschaften von Kiew – all das sind reale Orte. Die Wohnung der Protagonistin ist buchstäblich die Wohnung meiner Eltern in meiner Heimatstadt, mit dem gleichen schmalen Flur, in dem ich in den ersten Monaten der Invasion geschlafen habe. Die Matratze, die Notfallrucksäcke, die Wasservorräte – alles im Comic sieht genauso aus wie in meiner Realität. Das war mein sicherer Ort, hinter zwei Wänden. Ivan zum Beispiel hat lange darüber nachgedacht, wie er das Geräusch einer Luftschutzsirene visuell darstellen könnte. Er hat diese Seite mehrmals neu gezeichnet, um sie so realistisch wie möglich zu gestalten. Für die historischen Abschnitte habe ich viele Referenzen recherchiert – Fotos von Menschen und Straßen, sowjetische Propagandaplakate, Archivmaterial, mittelalterliche Manuskripte, Karten. Wenn ihr euch die Seite mit der „Himmlischen Hundertschaft“ anseht, werdet ihr feststellen, dass ich ein Porträt von jeder einzelnen Person gezeichnet habe, die während der Revolution der Würde getötet wurde. Denn sie sind nicht nur Zahlen. Es sind nicht nur „107 Leute“.
Vielen Dank, dass ihr euch die Zeit genommen habt, mit uns zu sprechen!
„Eine kurze Geschichte eines langen Krieges“ ist hier erhältlich.

