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Schweigen | Interview mit Birgit Weyhe

Hallo liebe Birgit, wann hast du zum ersten Mal von den Geschichten der beiden Frauen erfahren, und was hat dich dazu bewegt, ihre Leben in Form dieses Buches zu erzählen?

 

Ich bin gegen Ende meiner Arbeit an Rude Girl von dem argentinischen Sozialwissenschaftler gefragt worden, ob ich Interesse hätte, ein Comic über Elisabeth Käsemann zu machen. Ich habe mich dann eingelesen und hatte tatsächlich das Gefühl, dass dieser Geschichte noch einmal Gehör verschafft werden könnte. Gleichzeitig bin ich bei meinen ersten Recherchen auf Jeanette Heufelders Biografie von Ellen Marx gestoßen. Das war für mich interessant und neu, dass es diese vielen Verbindungen zwischen Argentinien und Deutschland gab. Daher wollte ich früher ansetzen als bei der Junta und Elisabeth Käsemann, zumal sich deren Geschichten dann ja kreuzen.

 

Wie lief die Recherche zu diesem Thema ab? Mit welchen Ansprechpartner*innen hast du gesprochen, und wie gestaltete sich die Zusammenarbeit?

 

Ich habe vor allem sehr viel gelesen. Zunächst waren das argentinische Romane über die Junta-Zeit, um ein Gefühl für das politische und soziale Klima zu bekommen. Dann natürlich alles, was es an Material zu Elisabeth Käsemann und Ellen Marx gab, auch Interviews und Filme. Ich stand im Austausch mit Dorothee Weitbrecht, der Nichte Elisabeth Käsemanns und Leiterin der Elisabeth-Käsemann Stiftung und der Schwester Elisabeth Käsemanns, Eva Teufel. Mit dem Sohn von Ellen Marx habe ich mich in Buenos Aires getroffen und auch mit ihrer Tochter in Israel Kontakt gehabt. Außerdem hat mir Mechtild Baum in Berlin weitergeholfen.

 

Kannst du ein bisschen über die Verflechtungen und Beziehungen zwischen Deutschland und Argentinien im 20. Jahrhundert erzählen – und inwiefern arbeitest du die Rolle, die Deutschland

besonders in der Junta-Zeit gespielt hat, in Schweigen heraus?

 

Argentinien hat sehr lange noch jüdische Emigranten ins Land gelassen und war generell Europa gegenüber ein sehr einwanderungsfreundliches Land. Vor allem aus wirtschaftlichem Interesse, weil Expertise und Arbeitskräfte benötigt wurden. Nach dem Krieg sind viele Nazis über die sogenannte Rattenlinie ins Land gekommen. Deren Verbrechen wurden in Kauf genommen, weil man sich Nutzen von deren Kenntnissen erhoffte. Die BRD nahm wiederum die Verbrechen der argentinischen Junta in Kauf, weil sie sich wirtschaftlichen Nutzen versprachen. Solange die Wirtschaftsverbindungen gut liefen, der Nutzen also groß war, wurden die Menschenrechtsverletzungen in Argentinien in Kauf genommen. Trotz sehr genauer Kenntnisse über Elisabeth Käsemanns Aufenthaltsort und Schicksal hat das AA nichts zu deren Rettung unternommen. Das fand ich schon bemerkens- und erzählenswert. Auf diesen Aspekt gehe ich vor allem in SCHWEIGEN ein. Die BRD hat Informationen verschwiegen und dadurch Menschen, in diesem Fall konkret Elisabeth Käsemann, geopfert, um Fußball und wirtschaftliche Verbindungen nicht zu trüben.

 

Du beleuchtest das Thema Schweigen aus verschiedenen Perspektiven und hast zu Beginn jedes Abschnitts passende Zitate ausgewählt. Wie bist du auf diese gestoßen, und nach welchen Kriterien hast du sie letztendlich ausgewählt? Gibt es vielleicht weitere Zitate, die es nicht ins Buch geschafft

haben, die aber dennoch eine besondere Wirkung auf dich haben?

 

Ganz zu Beginn meiner Recherchen habe ich zufällig im Radio ein Interview mit Aleida Assmann gehört. Dort ging es um die verschiedenen Facetten von Schweigen. Daraufhin habe ich mir Literatur von ihr besorgt und war vor allem von dem Buch Schweigen. Archäologie der literarischen Kommunikation XI fasziniert. Daher stammen einige der Zitate. Ich hatte sie bei der ersten Lektüre noch ohne konkretes Ziel gewählt. Als ich dann anfing, mir eine Struktur für das Buch zu überlegen, haben sie wie von selbst die vier Erzählstränge für die Graphic Novel Schweigen vorgegeben. Ich werde in Wiesbaden und Konstanz auch Veranstaltungen mit Aleida Assmann zusammen haben, darüber freue ich mich sehr. Es gibt sehr viele Zitate, die für mich wichtig waren, die aber den Rahmen dieser Geschichte gesprengt hätten. 

 

In deiner Danksagung erwähnst du, dass du gemeinsam mit deinem Mann selbst nach Argentinien gereist bist. Inwiefern haben diese Erfahrungen zur Entwicklung deines Projekts beigetragen? Gab es etwas, das dich auch auf persönlicher Ebene besonders bewegt oder beeinflusst hat?

 

Ohne die Reise nach Argentinien wäre das Buch ein ganz anderes geworden. Wir haben viele verschiedene Gedenkstätten, Museen und ehemalige geheime Folterzentren besucht und mit Angehörigen gesprochen. Auch waren wir zweimal bei den „Madres de Plaza de Mayo“, was unglaublich berührend war. Erst an diesen ganzen Orten hat sich der Horror für mich wirklich komplett übersetzt. Die Vorstellung, dass eine meiner Töchter verschwunden wäre, dass ihnen so etwas angetan würde, hat mich auch als Mutter extrem erschüttert und den Schmerz intensiv spürbar gemacht. Ein sehr eindrücklicher Besuch war an unserem letzten Tag in Buenos Aires der „Parque de la Memoria“ mit dem „Monumento a las Víctimas del Terrorismo de Estado“. Dort sind in Stein eingraviert die Namen und das Alter der Verschwundenen der Diktatur. Daneben fließt der Rio de la Plata, wo so viele der Opfer aus Flugzeugen bei lebendigem Leib zu Tode gestürzt wurden. Diese Masse an Namen und wie jung die meisten waren, bei vielen Frauen dazu der Vermerk, dass sie zum Zeitpunkt des Verschwindens schwanger waren. Es ist, als ob eine ganze Generation ausgelöscht wurde. In all diesen unbekannten Namen habe ich schließlich den von Elisabeth Käsemann und Nora Marx, Ellen Marx Tochter, gefunden. Das war der Moment, wo ich unkontrolliert weinen musste, überwältigt von der Masse an Namen, Schicksalen, all dem Leid, das damit in Zusammenhang steht.

 

Könntest du ein wenig auf die Geschichte der Aufarbeitung der Junta-Zeit in Argentinien eingehen. Wie hat sich der Diskurs darüber über die Jahrzehnte nach der Diktatur entwickelt und welche Rolle spielten dabei die Madres de Plaza de Mayo (Mütter des Platzes der Mairevolution)? Wie stehen heute Politik und Gesellschaft zu den Verbrechen der Vergangenheit?

 

Die Aufarbeitung der Junta-Zeit ist in Argentinien in Wellen verlaufen. Direkt im Anschluss an die Diktatur wurde mit Raúl Alfonsín ein Präsident ins Amt gewählt, der sehr um Aufarbeitung bemüht war. Es wurden Zeugenaussagen gesammelt und es kam zu Gerichtsprozessen gegen die Militärs, die mit deren Verurteilung endeten.  Das war eine Sensation, da anerkannt wurde, dass der Staat Verbrechen gegen die Menschlichkeit begangen hatte und die Verantwortlichen dafür zur Rechenschaft gezogen wurden. Allerdings gab es schnell sehr großen Druck dagegen, sodass es unter dem Nachfolger Carlos Menem zu einer Amnestie kam. Es wurde nun wieder mehrheitlich geschwiegen. Erst unter der Regierung von Néstor und Cristina Kirchner kam es zu einer grundsätzlichen Aufarbeitung, zur Errichtung der Gedenkstätten, zu einem öffentlichen Diskurs und zu weiteren Gerichtsverfahren mit erneuten Gerichtsurteilen und Haftstrafen. Jetzt, unter der Regierung von Milei, ist der Umgang mit der Erinnerungskultur ein ganz anderer geworden. Gedenkstätten werden geschlossen, die Opfer werden alle zu Gewalttätern umgemünzt und das Militär hätte damals lediglich für Recht und Ordnung gesorgt, so die neue/alte Lesart. Die Madres de Plaza de Mayo waren und sind über all die Jahre geblieben. Sie haben der Diktatur die Stirn geboten, nach ihren Angehörigen gesucht und Aufklärung gefordert. Woche für Woche drehen sie jeden Donnerstag auf der Plaza de Mayo ihre Runden, mit den Fotos ihrer verschwundenen Angehörigen in den Händen. Inzwischen sind einige im Rollstuhl, aber immer noch rufen sie die Vergangenheit ins Gedächtnis „Presente!“, bis heute. Sie haben zu keinem Zeitpunkt geschwiegen. 

 

Besonders intensiv sind die Passagen, in denen du die Folter in den argentinischen Geheimgefängnissen beschreibst, größtenteils anhand von historischen Quellen und den Berichten der Überlebenden. Wie herausfordernd war es für dich, Bilder für diese Verbrechen und die Erfahrungen der Opfer zu finden? Wie bist du an diesen Aspekt deiner Erzählung gegangen?

 

Diese Passagen waren für mich tatsächlich extrem herausfordernd. Ich habe lange dafür gebraucht, eine Strategie und Ideen dafür zu entwickeln. Einerseits wollte ich keinerlei Voyeurismus bedienen und auch keine über die Gebühr explizite Gewalt zeigen. Gerade im Zusammenhang mit der Shoah ist immer wieder über die Grenzen der Darstellbarkeit gesprochen. Und auch die Berichte von Überlebenden der argentinischen Folterzentren waren so unvorstellbar grausam, dass klar war das kann und will ich so nicht zeichnen. Andererseits sollte schon auch deutlich werden, zu welchen Monstrositäten Menschen fähig sind und was das mit den Opfern und einer Gesellschaft macht. Daher gehen einerseits die Darstellungen von Gewalt in Abstraktion über. Für die gekritzelten Flächen habe ich mehrere Zeichenfedern und Pinsel kaputt gemacht, weil ich tatsächlich mit unglaublichem Druck und Gewalt an den Zeichenwerkzeugen gearbeitet habe. Die gezeichneten Menschen treffen hier auf gewaltvolle Abstraktion von Gewalt. Eine andere Strategie war die völlige Abwesenheit von Menschen. Den Bericht von Elisabeth Käsemanns Aufenthalt im Folterlager El Vesubio habe ich von der Elisabeth-Käsemann-Stiftung bekommen und fast wörtlich übernommen. Ich habe lediglich die Sätze in einen bestimmten Takt gebracht. Ich war bei der Gedenkstätte El Vesubio, aber es gibt sehr wenig Anhaltspunkte, wie es dort aussah, es wurde dort noch zu Junta-Zeiten alles zerstört, um keine Beweise zu hinterlassen. Daher habe ich mich auf einzelne Dinge konzentriert und so weit herangezoomt, bis nicht mehr erkennbar ist, worum es sich handelt. Jedes normale Ding kann zu etwas Monströsem werden, je nach Kontext. Außerdem habe ich hier das einzige Mal im Buch nicht mit Tusche, sondern mit Buntstift gezeichnet und statt schwarz auf weißem Grund umgekehrt: weiß auf schwarz. Also komplett die Technik verändert.

 

Gegen Ende des Buches nimmst du Stellung zur aktuellen politischen Lage in Deutschland und der Welt. Wann hast du mit der Arbeit an SCHWEIGEN begonnen, und gibt es noch etwas, das du besonders hervorheben

möchtest?

 

Ich habe 2021 mit den ersten Recherchen zu SCHWEIGEN begonnen. Seitdem hat sich die Welt bestürzend verändert. Für mich ist Erinnerung zu einem Akt des Widerstands geworden. Wir dürfen nicht zulassen, dass Unrecht verschwiegen und vergessen wird, das nützt nur den Tätern und Populisten dieser Welt. Geschichte und Identitäten sind komplex und müssen verstanden werden.

Verkürzungen machen dagegen den Weg frei für Stereotype, Vorurteile und Diskriminierung. Dagegen möchte ich mich wenden und hoffe, dieses Buch kann einen Beitrag dazu leisten.

 

Vielen Dank, dass du mit uns über dein Buch gesprochen hast! Gibt es bereits ein neues Projekt, an dem du arbeitest und auf das wir uns freuen können?.

 

Ich bin Teil des Teams von Survivor-Centred Visual Narratives und werde die Geschichte einer jungen Ezidin, die als dreizehnjährige vom IS entführt wurde, dokumentieren. Ich bin beeindruckt von der Stärke dieser jungen Frau, auch wenn es leider wieder um sehr schwere Themen gehen wird.

 

Schweigen ist hier erhältlich!