Foto: Keum Suk Gendry-Kim / Privat
Liebe Keum Suk, vielen Dank, dass Sie sich die Zeit nehmen, mit uns über Ihr Werk und Ihre aktuelle Graphic Novel MEIN FREUND KIM JONG-UN zu sprechen. Sie sind in Goheung und Seoul aufgewachsen, bevor es Sie in den 1990er Jahren nach Frankreich gezogen hat. Wann haben Sie mit dem Zeichnen begonnen und was hat Sie als junge Künstlerin auf der Suche nach der eigenen Stimme inspiriert?
Ich kann mich nicht gut an meine Kindheit erinnern, aber meine Mutter erzählte mir, dass ich, als wir in Goheung lebten, gerne mit den Schreibutensilien meiner Schwester in Hefte zeichnete oder mit Steinen und Ästen auf dem Erdboden spielte. Mit zwölf Jahren begann ich, mich ernsthaft für Malerei zu interessieren. Während meiner Studienzeit mochte ich die Werke von Frida Kahlo, der Impressionisten und der Expressionisten. Und während meines Studiums in Frankreich entdeckte ich die Werke von Louise Bourgeois und Giacometti, die mir sehr gefielen.
Welche Rolle spielte der Comic in Ihrer Kindheit? Was hat Sie zu dem Medium hingezogen?
Als ich klein war, galten Comics für Kinder als Lektüre, die sie vom Lernen und dem eigentlichen Lesen abhielt. Und für Erwachsene als leichte Lektüre, die man nur auf der Toilette las. Trotzdem mochte ich Comics und suchte heimlich einen Comicladen auf, um sie zu lesen. Nachdem ich die Kunsthochschule in Straßburg absolviert hatte und nach Paris zog, veröffentlichte ich einen dreiteiligen Comic in einer koreanischen Zeitung. Gleichzeitig begann ich, koreanische Comics ins Französische zu übersetzen, und entdeckte dabei das unendliche Potential dieses Mediums. Denn egal, ob es sich um eine „leichte“ oder eine „schwere“ Geschichte handelt, ich kann ohne Einschränkungen das erzählen, was ich möchte, und dabei meinen eigenen Zeichenstil frei entfalten.
Wie hat Ihre Zeit als Comicübersetzerin Ihr Verständnis von Comics geprägt? Was haben Sie über das Comic-Handwerk gelernt und wie hat es Ihre eigene Arbeit beeinflusst?
Durch das Übersetzen von Comics habe ich ganz natürlich die Sprache der Comics erlernt. Dazu gehören Dinge wie die Position der Sprechblasen und die Beziehung zwischen den einzelnen Panels. Aber ich zeichne so, wie ich es möchte. Manchmal lasse ich die Panels weg, und ich zeichne die Sprechblasen nach Belieben. :) In Korea werden Comiczeichner*innen manchmal als „Comic-Arbeiter” bezeichnet. Das zeigt, wie viel geistige und körperliche Arbeit diese Tätigkeit erfordert. Ich mag Texte, Bilder und Geschichten gleichermaßen. Comics sind, meiner Meinung nach, ein Medium, in dem diese drei Elemente perfekt miteinander verschmelzen. Mit nur Bleistift und Papier kann man überall zeichnen, und das fertige Buch kann über Grenzen hinweg Leser auf der ganzen Welt erreichen. Ich arbeite gerne ruhig und alleine, aber das Schreiben und Zeichnen von Comics ist auch ein heimlicher Kampf, bei dem ich mich jeden Tag mit meinem Innersten auseinandersetzen muss.
Gibt es Themen und Motive, die all Ihre Geschichten verbinden?
Ich fühle mich instinktiv zu Frauen, Kindern und der Natur hingezogen. Da ich mit einem Hund zusammenlebe, interessiere ich mich auch sehr für Tiere, insbesondere für Hunde und Katzen. In meinen Werken tauchen oft Dinge auf, über die wir nicht gerne sprechen, Wahrheiten, die im Schatten verborgen sind. Selbst in harten Zeiten und schwierigen sozialen Situationen glaube ich an die Kraft des Lebens, die Kraft der Genesung und die Energie der Hoffnung und des Positiven, die es uns ermöglicht, trotz Verzweiflung und Trauer wieder aufzustehen. Ich möchte weiterhin existenzielle Fragen stellen, die nach dem Sinn des Daseins suchen.
Ihr bekanntestes Werk ist die Graphic Novel GRASS aus dem Jahr 2017, die sich mit der Geschichte der sogenannten „Trostfrauen“ beschäftigt. Wie kam es zu dem Projekt?
Es gibt mehrere Gründe, warum ich mich entschlossen habe, das Thema der sogenannten „Trostfrauen“, die von der japanischen Armee missbraucht wurden, in einem Comic zu behandeln. Unter anderem bin ich der Meinung, dass die Tatsache, dass Frauen, die Opfer von Kriegsverbrechen und Gewalt geworden sind, zum Schweigen gezwungen wurden, nicht nur das Land, das den Krieg ausgelöst hat, sondern unsere gesamte Gesellschaft zum Nachdenken anregen sollte. Die meisten von ihnen konnten keine Schule besuchen und stammten aus armen Verhältnissen. Ich wollte auch über den historischen und sozialen Hintergrund sowie die strukturelle Ungleichheit sprechen, unter denen sie zu leiden hatten. Sie mussten ihr ganzes Leben lang in Schmerz leben. Aber diese Tragödie betrifft nicht nur die „Trostfrauen“ der japanischen Armee. Immer wenn Krieg ausbricht, erleiden Frauen überall auf der Welt ähnliche Formen von sekundären und tertiären Schäden. Durch dieses Werk habe ich Leser*innen aus vielen Ländern der Welt kennengelernt, und viele Frauen und Männer über Grenzen, Rassen, Ethnien und Altersgruppen hinweg haben sich mit dieser Geschichte identifiziert. Es gab auch Leser*innen, die unter Tränen ihre eigene Geschichte erzählten. Denn sexuelle Gewalt ist ein Problem der gesamten Menschheit, das sich in jeder Epoche und in jedem Land wiederholt.
MEIN FREUND KIM JONG-UN ist Ihre neueste Graphic Novel. Was war der Grund dafür, dass Sie über Nordkorea und seinen Diktator erzählen wollten?
Ich lebe auf der Insel Ganghwa, die direkt an Nordkorea grenzt. Oft hört man in den Nachrichten, dass nordkoreanische Bürger über Ganghwa geflohen sind. Meine Mutter gehört zu einer getrennten Familie, aber als ich in Seoul lebte, war die Teilung Koreas für mich nicht so real. Die Teilung der koreanischen Halbinsel und die Nordkorea-Frage sind nach wie vor ein sehr sensibles Thema. Im Alltag sprechen wir kaum darüber, aber das Trauma sitzt tief in den Herzen aller. Wir gehören zu einer Generation, die von Kindheit an eine gründliche antikommunistische Erziehung erhalten hat. Als 2018 das Gipfeltreffen zwischen Nord- und Südkorea stattfand, hegten viele Menschen die Hoffnung, dass nun vielleicht eine friedliche Wiedervereinigung bevorstehe. Aber die Geschichte verläuft nicht immer so, wie wir es uns wünschen. Deshalb kam mir die Idee zu MEIN FREUND KIM JONG-UN. Anstatt Kim Jong-un oder die Realität Nordkoreas zu verspotten oder zu verurteilen, wollte ich anhand der Erfahrungen von Menschen aus dem Umfeld sowie der Geschichten von Menschen, die unter Krieg und Teilung leiden, die Bedeutung des Friedens in der Geschichte der Teilung vermitteln.
Sie zeigen auch, auf welche Weise die Südkoreaner*innen mit der ständigen Bedrohung aus dem Norden umgehen und diese sogar in ihren Alltag einbauen. Können Sie uns mehr über diesen Aspekt Ihres Buches erzählen?
Da ich von außerhalb komme (und vielleicht auch, weil ich Schriftstellerin bin), sind mir Dinge, die für die Menschen, die dort geboren sind und ihr ganzes Leben dort verbracht haben, ganz selbstverständlich sind, fremd und werfen bei mir die Frage des „Warum?“ auf. Manchmal beneide ich sie um die Fähigkeit, diese unsichere Umgebung gelassen akzeptieren und damit leben zu können, und manchmal denke ich sogar, dass das vielleicht die klügere Haltung ist. Aber das scheint nichts zu sein, was man einfach so erreichen kann, indem man sich bemüht.
Woran arbeiten Sie aktuell?
Ich arbeite derzeit an einem Projekt über das Massaker, das mein Vater in meiner Heimatstadt erlebt hat.
MEIN FREUND KIM JONG-UN ist hier erhältlich!
